22. May 2003 - 13. July 2003

KRETSCHMER, ANNELISE

Photographien 1925 bis 1975

»Meine Laufbahn als Fotografin begann mit dem Portrait und es blieb mein Hauptaufgabengebiet«, resümierte Annelise Kretschmer rückblickend ihre photographische Tätigkeit 1.  Als Annelise Kretschmer Mitte der zwanziger Jahre in die photographische Lehre ging, hatte sich die Portraitphotographie aus den engen Fesseln standardisierter Haltungen befreit. Neue Posen, aufgenommen aus den verschiedensten Perspektiven, eine gewagte Licht- und Schattenverteilung, Ausschnitte und Fragmentierungen eröffneten dem klassischen Sujet ein ungeahntes Formenrepertoire. Kretschmer bevorzugte innerhalb diese Genres die Grundsätze einer gemäßigten Moderne, die im Spiel der photographischen Gesetzmäßigkeiten die Wiedergabe des Menschen nicht aus dem Auge verlor.

Annelise Kretschmer (1903-1987) wuchs wohlbehütet in einer Dortmunder Kaufmannsfamilie auf. Mutter und Vater waren im eigenen, eleganten Konfektionshaus tätig, sie waren kulturell interessiert und führten im Kreise von Künstlerfreunden ein offenes Haus. Die Tochter erhielt eine  - für Mädchen damals eher unübliche - gymnasiale Schulausbildung. Neben diesen familiären Voraussetzungen gehörte Annelise Kretschmer zu der Generation von Frauen, die nach dem Ersten Weltkrieg infolge der gesellschaftlichen Umwälzungen in der Weimarer Republik die Spielregeln zur Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse selbst bestimmen konnten. Es eröffneten sich ihnen ganz neue Sparten der Berufstätigkeit, darunter auch die verschiedenen Zweige des photographischen Gewerbes. Wie Kretschmer kamen sie häufig aus großbürgerlichem Hause, konnten sich noch gewachsener Privilegien bedienen, vor allem Spielräume bedenkenlos ausprobieren.

1922 ergriff Kretschmer die Gelegenheit, sich in dem Essener Photoatelier Von Kaenel mit den Grundbegriffen der Photographie vertraut zu machen. »Ich wußte damals sicherlich nicht genau, warum ich gerade die Fotografie wählte. Aber ich stellte mir vor, man würde viel mit Menschen zu tun haben, was mich interessierte … Aber den Aspekt der Ausbildung nahm ich nicht sehr ernst. Bedenken Sie, daß wir von zu Hause überhaupt nicht zu beruflichen Entscheidungen gedrängt wurden … Bei allen Vorteilen war das zahlende Elternhaus auch im Wege - alles wurde irgendwie offen gelassen.« 2

Im Anschluß daran ging sie von 1924 bis 1928 zu Franz Fiedler nach Dresden, der dort seit 1919 seine »Werkstatt für künstlerische Bildnisfotografie« betrieb, um ihren Umgang mit Photographie zu professionalisieren. Fiedler (1885-1956) war Schüler des Prominenten Photographen Hugo Erfurth (1874-1948) und setzte sich auch  theoretisch mit der künstlerischen Photographie auseinander: u.a. im »Deutschen Camera-Almanach« mit der »Photographischen Bildniskunst« 1921 und 1925 in »Meine Ziele« programmatisch mit den Gesetzmäßigkeiten der bildmäßigen Photographie: »… immer … stelle ich meine Aufnahmen vollkommen auf bildmäßige Wirkung ein, die aber im letzten Grund auch nur meinem Ziel dient: das typisch Interessante der äußeren Erscheinung als Schale der Seele einzufangen und durch Linie und Tonwerte in der Fläche lebendig werden zu lassen.«3 Diese bildkompositorischen Grundsätze vom Spannungsverhältnis zwischen Vorder- und Hintergrund, von der wirkungsvollen Verteilung der Hell-Dunkel-Werte und dem Einsatz von Linie und Fläche bestimmen auch die frühen photographischen Arbeiten von Annelise Kretschmer. Später findet sie dann eher Gefallen an Ornamentalisierung von Person im räumlichen Ambiente als Variante des Neues Sehens. Im »Modischen Portrait« von 1929 beobachten wir eine Sitzende aus leichter Aufsicht, eine karierte Tischdecke im Vordergrund, die dezent gemusterte Bluse mit weißem Kragen im Mittelfeld und schwarz-weiße Karos als Hintergrund. Die Räumlichkeit wird scheinbar aufgehoben und die Konzentration richtet sich auf Gesicht und Hände. 

Fiedler motivierte seine Schülerinnen auch eigene Ideen photographisch umzusetzen. Er nahm sie zu Auftragsarbeiten oder wie Kretschmer auch auf  Reisen mit, zum Beispiel nach Italien, um Filmmaterial der Dresdner Firma Mimosa AG auszuprobieren. Er regte sie an, ihre Arbeiten auf Ausstellungen zu präsentieren und zur Veröffentlichung in Zeitschriften und Magazinen anzubieten. Annelise Kretschmer war beispielsweise vertreten auf den internationalen Ausstellungen im März 1928 in Prag und im Herbst 1928 in Graz und seit diesem Jahr finden sich auch Beispiele ihrer Arbeit im »Deutschen Camera-Almanach«, im »Atelier des Photographen«, in »Photographie für alle«, in der »Photographischen Rundschau«. Kretschmer nahm 1929  an der wohl bedeutendsten internationalen Avantgarde-Ausstellung zwischen den Kriegen »Film und Foto« in Stuttgart mit der Aufnahme »Stühle« (Paris 1928) teil und im Jahr darauf an der Photoschau »Das Lichtbild« in München mit zwei Arbeiten. Daß Fiedler ihre Aufnahmen besonders schätzte, belegt die Tatsache, daß er mit ihnen seine phototheoretischen Beiträge illustrierte. 1926 wurde Kretschmer - auf Veranlassung von Fiedler - Mitglied der »GDL-Gesellschaft Deutscher Lichtbildner«, der 1919 gegründeten Vereinigung deutscher Fachphotographen.

Annelise Kretschmer jedenfalls hat es geschafft, aus dem luxuriösen Zeitvertreib während mehrerer Jahre Praktikum und Volontariat in photographischen Ateliers schließlich eine Profession zu machen.  Sie war erfolgreich - vielleicht ohne sich dessen wirklich bewußt zu sein. Das Photographieren war von einer abwechslungsreichen Beschäftigung zum Beruf mit allen Konsequenzen geworden: Verheiratet seit 1928 mit dem Bildhauer Sigmund Kretschmer und später Mutter von vier Kindern mußte sie mit  Werbe- und Bildnisphotographie ihre sechsköpfige Familie nahezu alleine zu ernähren. Das 1929 in Dortmund eingerichtete eigene Atelier hat  Annelise Kretschmers Tätigkeit mit Unterbrechungen bis 1978 bestimmt. Anfangs fertigte sie Modeaufnahmen zu Werbezwecken für das elterliche Konfektionshaus, die sie an die regionalen illustrierten Blätter verkaufen konnte, bis sie sehr bald als anerkannte Portraitistin ihr Atelier in der Stadt führte. In dem Bericht in der illustrierten »Wochenschau« im September 1930 unter dem Titel »Prominente Vertreter moderner Lichtbildkunst« findet ihr Name neben u.a. Fiedler, Erfurth, Moholy-Nagy, Renger-Patzsch und den Kolleginnen Rieß und Madame d’Ora Erwähnung.

Ein Selbstportrait, um 1928 entstanden, zeigt wie sie sich selbst gerne sah: als moderne junge Frau im schicken Zweiteiler, mit Seidenstrümpfen und Bubikopf, in der Haltung einer Reporterin auf der Jagd nach dem sensationellen Motiv im Umgang mit einer handlichen Klapp-Kamera, allerdings eine Studioaufnahme, das eine Knie ruht bequem auf einem Sofakissen!

Auf ihren Reisen photographierte Kretschmer im selbst gestellten Auftrag. Beim Besuch in Paris 1928 sind Aufnahmen entstanden, die in ihrer Atmosphäre an den Paris-Chronisten Atget (1857-1927) mit seinen stimmungsvollen Straßenbildern erinnern, die neben der bloßen Dokumentation auch die Poetik der menschenleeren Großstadt aufscheinen lassen. In Motivwahl und Ausschnitthaftigkeit sind sie dagegen deutlich vom Neuen Sehen beeinflußt, so bei einer Nachtaufnahme des »Hotel Havanna«, das durch das Gewirr der Linien von Mauern, Fenstern, Markisen, Spruchbändern und die verunklärenden nächtlichen Licht- und Spiegelungseffekte bestimmt ist. 

 

Biografie

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ERÖFFNUNG

Mittwoch, 21. Mai 2003 | 19 h

Es sprechen

Elisabeth Moortgat
Das Verborgene Museum

Christiane von Königslow
geb. Kretschmer

LAUFZEIT

22. Mai - 13. Juli 2003

ÖFFNUNGSZEITEN

Donnerstag, Freitag 15 - 19 Uhr
Samstag, Sonntag 12 - 16 Uhr

 

STANDORT > ADRESSE

Der Verein DAS VERBORGENE MUSEUM | Dokumentation der Kunst von Frauen eV
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+49 (0) 30 861 34 64

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STADTPLAN
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Einladungskarte
  zur Ausstellung 

Eine Ausstellung der Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang, Essen.
Die Publikation "Anneliese Kretschmer - Fotografien 1927-1937",
Steidl-Verlag, ist im Museum für 20 € erhältlich.

 

Mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur | Künstlerinnenprogramm

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