ELLA BERGMANN-MICHEL
Fotografien und Filme 1926 – 1933
Ella Bergmann-Michel, 1895 in Paderborn geboren, beginnt 1915 mit dem Studium der Malerei an der Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für Bildende Kunst in Weimar, die geprägt ist durch den Kunstreformer Henry van de Velde. Sie richtet ihre Ausbildung interdisziplinär aus und bezieht naturwissenschaftliche und medizinische Studien mit ein. Während des Studiums lernt sie den gleichgesinnten Robert Michel kennen, den sie 1919 heiratet. In der Künstlergruppe mit Johannes Molzahn und Hans-Peter Röhl führen sie Auseinandersetzungen über künstlerisches Experimentieren und die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die akademische Ausbildung veranlaßt Ella Bergmann-Michel mehr im eigenen Atelier zu arbeiten. Erste Materialcollagen entstehen noch bevor Kurt Schwitters sich damit beschäftigt. In der Ausstellung zur Einweihung des Bauhauses 1919 stellt sie ihre Werke aus.
Künstlerin der Avantgarde
Ella Bergmann-Michel arbeitet als freischaffende Künstlerin. Mit Robert Michel zieht sie nach der Geburt des Sohnes Hans 1920 – ihre Tochter Ella wird 1927 geboren – in die “Schmelz“, eine ausgebaute Mühle in Eppstein-Vockenhausen im Taunus. Die “Schmelz“ wird Lebens- und Arbeitsmittelpunkt und entwickelt sich zum kulturellen Treffpunkt von Avantgarde-Künstlern. Kurt Schwitters besucht sie regelmäßig. Er vermittelt den Kontakt zu Katharine S. Dreier, über die Ella Bergmann-Michels Arbeiten in die USA gelangen. In der “Schmelz“ treffen sich László Moholy-Nagy, Jan Tschichold, Willi Baumeister, Adolf Meyer, Mart Stam, Ilse Bing, Dziga Vertov, Joris Ivens und Marta Hoepffner. Der Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen bedeutet Auseinandersetzung und ist Antrieb für die künstlerische Arbeit. Mit Ilse Bing (1899-1998), die sie 1930 durch den Architekten Mart Stam kennenlernt, entwickelt sich eine Zusammenarbeit und darüber entsteht eine lebenslange Freundschaft. Ende der 20er Jahre, als sich Bergmann-Michel intensiv mit Fotografie und Film beschäftigt, entwickelt sich eine Freundschaft zu Marta Hoepffner (1912-2000), die, auch Mitglied im Neuen Frankfurt, bei Willi Baumeister an der Frankfurter Kunstschule studiert und von Bergmann-Michel beeinflußt wird.
Fotografie
Im Reformbund “Das Neue Frankfurt“, der sich für die soziale und kulturelle Stadterneuerung einsetzt, arbeitet Ella Bergmann-Michel mit Gleichgesinnten zusammen. Zeitgleich mit ihrer Mitgliedschaft 1926 beginnt sie auch für den Bund zu fotografieren.
Die Beschäftigung mit der Fotografie intensiviert sich, die Malerei tritt ganz zurück. 1929 mietet sie sich ein Atelier am Eschenheimer Turm in Frankfurt am Main. In Anlehnung an das Neuen Sehen entstehen Studien zu Licht und Bewegung. Bergmann-Michel arbeitet vorzugsweise mit der flexiblen Leica. Seriell hält sie ihre Beobachtungen des Stadtraumes von oben aus ihrem Atelierfenster fest. Sie macht Zeit, Raum und Bewegung im städtischen Umfeld zu ihrem Thema. Die gesellschaftspolitischen Forderungen des “Neuen Frankfurt“ in den entscheidenden Lebensbereichen: Architektur, Pädagogik, Kunst, Typographie, Theater und Film finden sich in ihren Aufnahmen wieder. Bei Alltagsthemen wie Wohnen im Siedlungsbau, Straßenverkehr, spielende Kinder, Menschen bei der Arbeit und Naturphänomenen beobachtet sie das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem und die sozialen Verhältnisse in Arbeits- und Wohnsituationen. Dabei entstehen nahezu abstrakte Kompositionen, die heute ihren Platz in der modernen Fotografie behaupten.
Filme
Experimentierfreudig wie sie war, greift sie 1931 zur Filmkamera und erfüllt dabei gleichermaßen ihre inhaltliche und ästhetische Maxime: soziales Engagement und ästhetischen Anspruch im Bild zu vereinbaren. In Ihrem ersten Film “Wo wohnen alte Leute“ dokumentiert sie die Struktur eines neu erbauten Altersheims. Sozialkritisch thematisiert der Film “Erwerbslose kochen für Erwerbslose“ das Elend der Arbeitslosen 1932. Im selben Jahr entsteht auch der Film “Fliegende Händler“, in dem sie verstärkt mit Montage und Überblendungen arbeitet und so die Situation der illegalen Straßenhändler deutlich macht. Die Dokumentation des Wahlkampfes 1932/33 “Letzte Wahl“ bleibt Fragment, da sie die Filmarbeit aufgrund politischer Repression abbrechen muß.
Arbeitsverbot
Die ästhetischen und inhaltlichen Vorstellungen der Nationalsozialisten gebieten ihrer künstlerischen Arbeit Einhalt. Während der Filmarbeiten zu “Letzte Wahl“ wird Ella Bergmann-Michel verhaftet, Gemälde von ihr werden beschlagnahmt und sie erhält Arbeitsverbot. Ella Bergmann-Michel zieht sich zurück und bleibt mit ihrer Familie in der “Schmelz“. Robert Michel baut eine Fischzucht auf, sie versucht sich mit der Kleintierzucht. 1937 bis 1939 ist sie einige Wochen im Jahr in London und arbeitet im Atelier von Freunden.
Neuanfang
Nach 1945 wendet sie sich neben Aktivitäten im Frankfurter Filmclub in den 1960er Jahren wieder der Malerei und Graphik zu. An die vorherige Kreativität kann sie nicht wieder anknüpfen. 1971 stirbt Ella Bergmann-Michel in Eppstein.
DAS VERBORGENE MUSEUM zeigt in Zusammenarbeit mit dem Museum Folkwang Essen in der Ausstellung 90 Fotografien von Ella Bergmann-Michel und des Weiteren sind ihre fünf Filme zu sehen, sowie das Filmporträt „Mein Herz schlägt blau“, 1989, von Jutta Hercher und Maria Hemmleb.
Zu den Filmen
“Nach vorausgegangenen jahrelangen Fotostudien begann ich 1931 mit Film-Studien-Aufnahmen.“
“...bis zum Jahresbeginn 1933 drehte ich vier kleine Filme – heute würde man sagen: dokumentarische Kurz-Filme.
Länge: 180 bis 300 Meter, Material 35mm Kodak-Film.“ So beschreibt Ella Bergmann-Michel den Beginn ihrer Filmarbeit.
Ein wichtiger Anreger für sie war Joris Ivens, der ihr auch die handliche Filmkamera „Kinamo“ empfohlen hat.
Seine Filme, beispielsweise “Regen“ und “Zuidersee“ beeinflußten sie, aber auch die russischen Filme von Dziga Vertov, den sie kennenlernte und die Arbeiten der amerikanischen Filmemachers Robert und Frances Flaherty.
Im “Bund Das Neue Frankfurt“ entsteht die “Arbeitsgemeinschaft für modernen Film“, die Ella Bergmann-Michel 1928 mit begründet. Die Erstellung kritischer und informativer Filme ist Programm.
In diesem Kontext entsteht 1931 der Film “Wo wohnen alte Leute“, in dem Bergmann-Michel das Leben im neu errichteten Budge-Altersheim beobachtet. Er beschreibt exemplarisch den mit der neuen Architektur angelegten Versuch, menschenwürdiges Wohnen für alte Leute zu schaffen.
Bei dieser Arbeit lernte sie die Fotografin Ilse Bing kennen, die die Entstehung der Gebäude fotografisch dokumentiert hatte.
Eine Selbsthilfeaktion von Arbeitslosen stand in enger Verbindung mit ihrer Auftragsarbeit
“Erwerbslose kochen für Erwerbslose“, für die sie auch gemeinsam mit ihrem Mann Robert Michel in Freiluftaufführungen die Sammlung von Spenden organisierte.
Als Vorprogramm in Frankfurter Kinos eingesetzt, diente der Film der Aufklärung und der Bitte um Unterstützung für das Projekt und für die Arbeitslosen.
Ihre Beobachtungen über “Fliegende Händler“, arbeitslose Straßenhändler, die unerlaubt an Plätzen und Ecken Waren feilboten, waren das Thema ihres dritten Films.
Hier wird ganz besonders ihre freie Aufnahmetechnik deutlich, die experimentellen Licht- und Bewegungsstudien, die sie bereits in den fotografischen Arbeiten praktiziert hat.
Durch die Art der Filmmontage geben sie dem Film eine dem Thema entsprechende Lebendigkeit.
Eher poetisch wirkt da “Fischfang in der Rhön“, den Ella Bergmann-Michel selbst als “lyrisches Landschaftsthema“ bezeichnet hat und in dem sie Hektik und Dynamik der Großstadt eintauscht gegen das beschauliche Bild der Natur mit den im Bach schwimmenden und springenden Forellen.
Mit dem Einsatz der Kamera knüpft sie an ihre experimentellen Landschaftsfotografien an.
Ihren letzten Film “Letzte Wahl“
kann sie nicht mehr vollenden. Während der Dreharbeiten wird sie verhaftet, als sie vor einem Wahllokal eine Schlägerei aufnimmt.
Die Polizei vernichtete einen Teil des gedrehten Materials, Ella Bergmann-Michel kam erst nach langem Verhör wieder frei. Aus politischen Gründen brach sie daraufhin die Filmarbeit ab, so daß nur noch das erhaltene Fragment die Brutalität des Wahlkampfes im aufkommenden Nationalsozialismus belegt.
Die Filmemacherinnen Jutta Hercher und Maria Hemmleb haben sich mit dem Leben und den künstlerischen Arbeiten von Ella Bergmann-Michel intensiv auseinandergesetzt und 1989 über die Künstlerin das eindrucksvolle Portrait
“Mein Herz schlägt blau“ gemacht.
Jutta Hercher wird die Filme von Ella Bergmann-Michel kommentieren und in das Portrait einführen.
Eröffnung
Mittwoch | 20.September 2006 | 19 Uhr
Es sprechen
Elisabeth Moortgat,
Das Verborgene Museum
Anneli Duscha,
Kuratorin der Ausstellung
Laufzeit
21. September 2006 - 19 November 2006
Öffnungszeiten
Do - Fr 15 - 19 h | Sa - So 12 - 16 h
Veranstaltungen
FESTABEND zum 111. Geburtstag der Künstlerin
Freitag 20. Oktober 19:30 h
FILMABEND | ELLA BERGMANN-MICHEL
In Zusammenarbeit mit dem Kino Arsena
Potsdamer Str. 2 | Potsdamer Platz | 10785 Berlin
Montag 20. November 2006 | 19.30 h
1. Wo die alten Leute wohnen, 1931, 12:56 Min.,
35mm
2. Erwerbslose kochen für Erwerbslose, 1932,
09:24 Min., 35mm
3. Fliegende Händler, 1932, 21:14 Min., 35mm
4. Fischfang in der Rhön, 1932, 10 Min., 35mm
5. Letzte Wahl, 1932/33, 13:10 Min., 35mm
Regie-Kamera-Schnitt: Ella Bergmann-Michel
Die Filmemacherin Jutta Hercher führt in die Filme von Ella Bergmann-Michel ein und stellt ihr
Filmportrait ("Mein Herz schlägt blau", 1989,
30 Min.) über die Künstlerin vor.
Jutta Hercher und Sünke Michel, Künstlerin und Schwiegertochter von Ella Bergmann-Michel
sind zum anschließenden Gespräch anwesend.
EINLADUNGSKARTE | zur Ausstellung
PUBLIKATION | KatalogBuch zur Ausstellung
Anneli Duscha, Ella Bergmann-Michel
Fotografien und Filme 1927-1935,
Reihe Beruf: Fotografin
Hrsg.: Ute Eskildsen, Museum Folkwang Essen,
88 S. s/w Aufnahmen,
Göttingen 2005
STANDORT > ADRESSE
Der Verein DAS VERBORGENE MUSEUM | Dokumentation der Kunst von Frauen eV
hat seine Tätigkeit seit dem 1. Januar 2022 eingestellt.
mehr erfahren Sie hier:
AKTUELLE Rufnummer
+49 (0) 30 861 34 64
MAIL>ADRESSE | weiterhin aktuell
berlin@dasverborgenemuseum.de
zeigt in Zusammenarbeit mit dem Museum Folkwang Essen in der Ausstellung
90 Fotografien von Ella Bergmann-Michel
Zur Ausstellung liegt die Publikation vor:
Fotografien und Filme 1927-1935,
Reihe Beruf: Fotografin
Hrsg.: Ute Eskildsen, Museum Folkwang Essen,
88 S. s/w Aufnahmen, Göttingen 2005
Im Rahmen Europäischer Monat der Fotografie
Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur | Künstlerinnenprogramm